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Bild: Man sieht ein kleines Mädchen mit blonden Haaren beim Spielen durch einen Krabbeltunnel.

Von Anfang an auf Augenhöhe – Inklusion in der Kita Wupper

Seit 2020 sind die Landschaftsverbände nach dem Bundesteilhabegesetz für heilpädagogische Leistungen in der Kindertagesbetreuung zuständig. Mehr und mehr Regelkitas betreuen inzwischen Kinder mit (drohender) Behinderung. So auch drei der rund 60 Kinder in der Kita Wupper in Radevormwald. Dieser inklusive Ansatz trägt dazu bei, dass sich auch die kleine Anna Lichte mit Downsyndrom in der Kita Wupper gut aufgehoben fühlt.

Morgens, acht Uhr, in Radevormwald: Katharina Lichte bringt ihre vierjährige Tochter Anna in die Kita Wupper. Auf dem Weg läuft Anna, die mit Trisomie 21 lebt, aufgeregt vor und hält ihre Mutter ganz schön auf Trab. Geschafft aber lächelnd folgt Katharina Lichte ihrer Tochter und passt auf, dass Anna nicht stolpert oder zu weit vom Weg abkommt. Bei der Kita angekommen, hält eine Erzieherin Anna die Tür auf und begrüßt sie freundlich. Aber Anna läuft auf direktem Weg zu Maya Miszka, ihrer Kita-Assistenz, und springt ihr freudestrahlend in die Arme. „Das macht sie jeden Morgen. Die Beiden haben wirklich eine tolle Bindung“, schwärmt Katharina Lichte.

Die Kita-Assistenz ist eine sogenannte individuelle heilpädagogische Leistung. Sollen heilpädagogische Leistungen in der Kita oder in der Tagespflege erbracht werden, prüft der LVR den Teilhabebedarf und bewilligt und finanziert die Leistungen. Diese neue Aufgabe haben die Landschaftsverbände in NRW 2020 nach dem Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes übernommen.  Das Ziel: Kinder mit Behinderung und ihre Eltern sollen umfassend und selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können – und zwar unabhängig von ihrem Wohnort und der jeweiligen Betreuungsform.

Entwicklungsfortschritte dank Kita-Assistenz

Maya Miszka kommt um acht Uhr in die Kita Wupper. Sie achtet im wuseligen Kita-Alltag individuell auf Annas Bedürfnisse und ihre Einschränkungen. Sie greift ein und unterstützt, wenn es nötig ist. Maja und eine Erzieherin bringen Anna in den Turnraum. Hier kann sie ausgelassen mit den anderen Kindern spielen und umhertollen. Als Anna das Klettergerüst erklimmt, steht Maya Miszka mit wachem Blick daneben, stets bereit, Anna aufzufangen. Wegen ihrer Trisomie 21 ist Anna motorisch nicht gleichauf mit den anderen Kindern in ihrer Gruppe. Trotzdem ist es für Maya Miszka inzwischen aber die größte Herausforderung, sich im Hintergrund zu halten und Anna gewähren zu lassen. Denn seit eine LVR-Fallmanagerin 2021 zum ersten Mal Annas Teilhabebedarf ermittelt und passende Unterstützung bewilligt hat, hat die Vierjährige große Fortschritte gemacht. „Anna hat zwar sprachlich und motorisch gewisse Defizite, doch das beeinträchtigt sie nur bedingt“, sagt Katharina Lichte.

Die Fallmanager*innen des LVR beraten Eltern, Träger und Kita. Sie ermitteln, was das Kind braucht, um in der Kita teilhaben zu können. Außerdem vermitteln sie Eltern an Ärzt*innen, empfehlen sinnvolle Leistungen und bündeln alle Infos zur Antragsstellung. Derzeit arbeiten rund 100 Fallmanager*innen im Rheinland. „Das LVR-Fallmanagement bietet vor Ort eine individuelle Beratung für Kinder und deren Sorgeberechtigte. Zudem fungiert es als Lotse im Sozialraum. Wir haben mittlerweile ein sehr gut funktionierendes Beratungsnetzwerk in allen 26 LVR-Gebietskörperschaften etabliert. Ein echter Paradigmenwechsel also, hin zu mehr Bürgernähe und einem umfassenden Beratungsansatz.“, so Knut Dannat, LVR-Dezernent für Kinder und Jugend.

In der Kita Wupper gibt es nun um 12 Uhr Mittagessen. Anna sitzt an einem runden Tisch mit fünf anderen Kindern. Sie gibt einem Mädchen ohne Getränk ihr Glas Wasser. „Anna ist ein empathisches Mädchen. Sie teilt gerne und tröstet oft auch andere Kinder“, erzählt Kita-Leiterin Tatjana Gelwig-Götz. Doch das war nicht immer so. Anna wurde kurz vor der Corona-Pandemie geboren und hatte Probleme mit der Lunge. Im Lockdown hat Familie Lichte sämtliche Kontakte außerhalb der Familie gemieden. Zu groß war die Gefahr, dass sich Anna mit dem Corona-Virus ansteckt. Anna war deswegen sehr verschüchtert und verängstigt beim Kontakt mit fremden Kindern.

Individuelle Förderung mit der Basisleistung I

Um Anna trotz ihrer sozialen Ängste den Besuch einer Kita zu ermöglichen, nahm Annas Familie Kontakt zum LVR auf. Anna konnte sich zu diesem Zeitpunkt nur über Laute verständigen. Das erschwerte es ihr, Kontakt zu anderen Kindern aufzunehmen und ihre Bedürfnisse deutlich zu machen. Damit sie kommunizieren konnte, musste sie jemand ständig im Auge haben und ihr Verhalten deuten. Zudem steckte sich Anna oft kleine Gegenstände in den Mund und hatte eine starke Milchunverträglichkeit. Es bestand die Gefahr, dass Anna etwas verschluckte. Deshalb war eine individuelle Begleitung notwendig. Die LVR-Fallmanagerin empfahl daher, dass Anna in ihrem Kita-Alltag durch die sogenannte Basisleistung I und eine zusätzliche Assistenz gefördert wird. Bei der Basisleistung I kann der Einrichtungsträger wählen: zwischen dem Modell der Gruppenstärkenabsenkung und dem Modell Zusatzkraft. Je nach gewähltem Modell und Anzahl der Kinder mit Behinderung in der Einrichtung sind dann von ihm entsprechende Fachkraftstunden aufzubauen.

Gerade am Anfang war Maja als Assistenz für Anna unverzichtbar, damit die Inklusion in der Kita Wupper gelingt. So viele Kinder auf einem Fleck hatte Anna noch nicht erlebt. Maja achtete stets darauf, wie es ihr in der Menge ging. Wenn sie bemerkte, dass Anna überfordert war, bot sie ihr Rückzugsmöglichkeiten.

Derzeit besuchen rund 24.000 Kinder mit Behinderung die 11.000 Regelkitas in NRW. „Die Kitalandschaft ist im Moment im Umbruch. Immer mehr Kitas wollen Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam betreuen. Es macht mir großen Spaß, diese Entwicklung mit meiner Arbeit zu unterstützen“, sagt Niclas Nowacka, der mittlerweile Annas Fallmanager ist.

Nicht nur dank der zusätzlichen Fachkräfte in der Kita entwickelt sich Anna Lichte so gut. „Kinder lernen vor allem von anderen Kindern. Anna ahmt ältere Kinder nach und macht so Fortschritte“, erklärt Katharina Lichte, die selbst gelernte Erzieherin ist.  

Im Garten der Kita Wupper spielen die Kinder nun im Sandkasten. Anna backt mit zwei Freundinnen Sandkuchen. Sie berührt eins der Mädchen am Arm und deutet mit dem Finger auf ein Förmchen. Die anderen Kinder kennen Anna inzwischen gut. Nach einem kurzen, prüfenden Blick zur Assistenz Maja gibt das Mädchen das Förmchen an Anna. Die Vierjährige hat in der Kita ihre eigenen Wege gefunden, sich auszudrücken. Manchmal spricht sie inzwischen sogar einzelne Worte und kurze Sätze. Sie sucht heute aktiv den Kontakt mit anderen Kindern. Und wenn es ihr doch noch einmal schwerfällt, sich mitzuteilen, hilft und vermittelt ihre Assistenz.

 

„Alle wachsen gemeinsam auf“

Auch die anderen Kinder in der Kita lernen viel von Anna. „Wir legen Wert darauf, dass alle Kinder unabhängig von Nationalität, Haarfarbe, Charaktereigenschaften und natürlich Beeinträchtigung gleich sind. Alle wachsen gemeinsam auf. Die Kinder ohne Behinderung sehen Kinder mit Behinderung gar nicht als anders, sie sind auf Augenhöhe“, sagt Tatjana Gelwig-Götz. Die Kita Wupper besuchen derzeit 57 Kinder in drei Gruppen. Drei der Kinder haben eine Behinderung.

Bei der Teilhabe von Kindern mit Behinderung in der Kita Wupper unterstützt der LVR kontinuierlich. Jährlich zum neuen Kitajahr ermittelt Niclas Nowacka den Teilhabebedarf von Anna Lichte. Er überprüft, ob für sie die Basisleistung I und Kita-Assistenz noch passen oder ob die Vierjährige eine andere Förderung braucht. „Mit dem Fallmanager bin ich immer im Gespräch, er ruft innerhalb kurzer Zeit zurück und auch per Mail haben wir einen guten Kontakt. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass unser Fallmanager nicht nur den Antrag bearbeitet, sondern sich tiefgründig mit dem Kind beschäftigt. Er nimmt sich viel Zeit, um den Bedarf richtig einzuschätzen“, berichtet Tatjana Gelwig-Götz.

Um drei Uhr holt Katharina Lichte ihre Tochter wieder ab. Tatjana Gelwig-Götz verabschiedet die aufgeweckte Vierjährige am Tor der Kita. Auch nach sieben Stunden Kita ist Anna noch voller Energie – sie entwischt der lachenden Mutter. Statt schnurstracks nach Haus zu gehen, möchte sie lieber noch erkunden, was abseits des Heimweges liegt. Anna hat eben ihren eigenen Kopf. Tatjana Gelwig-Götz schaut der Vierjährigen hinterher. „Anna gehört so zu uns, dass wir sie nicht mehr missen wollen. Wir sind hier wie eine ganz große Familie.“

Ansprechperson

Anna Hieb
LVR-Fachbereich Kommunikation
Volontärin

anna.hieb@lvr.de

Tel: 0221 8095862